ein märchen

Der Prinz lebte in dem Königreich hinter den Bergen hinter dem Wald. Als Sohn des Königs hatte er alles, was das Herz begehrte, und er lebte glücklich und zufrieden. Und da es nichts zu berichten gibt, ist die Geschichte hier schon zu Ende.

Nein, halt... eines fehlte doch noch zu seinem Glück. Langweilig waren die Ritte durch den Wald, und das Geschwätz seiner adligen Begleiter ödete ihn an. Wie gerne hätte er eine Prinzessin an seiner Seite gehabt! Ein anmutiges Geschöpf, das nicht nur Waffen und Turniere im Sinn hatte, sondern dem er von der Schönheit der Sterne und des Mondes hätte erzählen können und die ihn verstanden und nicht für einen wirrköpfigen Träumer gehalten hätte, die den Gesang eines Vogels dem Gedröhn der Trommeln vorzöge und dem Leben eines Käfers genau so viel Respekt entgegenbrächte wie dem Leben eines Menschen...

In dem anderen Königreich, hinter dem Berg mit der Burg, da lebte bei ihren Königseltern eine Prinzessin, die ihm wohl gefallen hätte. Nur einmal war es ihm vergönnt gewesen, bei einem Bankett an ihrer Seite zu sitzen. Sie war so schön, wie er noch niemals auf der Welt jemanden gesehen hatte, und so klug, daß selbst die klügsten Männer seines Königreiches noch von ihr hätten lernen können. Wenn sie lachte, dann leuchteten ihre Augen wie Sonne und Mond zugleich, und wenn sie sprach, dann wünschte er, die Zeit möge stehenbleiben, daß er jedes ihrer Worte hundert Mal hätte hören können.

Seit dieser Begegnung waren seine Gedanken bei Tag und bei Nacht nur bei ihr, und er hätte alles dafür gegeben, sie für immer an seiner Seite zu haben. Aber ach, wie hätte er ihr seine Liebe zeigen sollen? Drachen, vor denen er sie hätte retten können, gab es im Königreich schon lange nicht mehr. Er hätte sie mit Geschenken überhäufen können, aber Reichtümer bedeuteten ihr ebensowenig wie ihm, und außerdem... sie war ja selbst eine Königstochter und es gab nichts, was sie nicht auch ohne ihn hätte bekommen können. Er schrieb ihr lange, glühende Briefe – und übergab keinen davon den Boten; diese dummen Buchstaben reichten einfach nicht aus, um seine Gefühle zu beschreiben.

Und immer, wenn der Prinz an die Prinzessin dachte, brannte sein Herz vor Sehnsucht, und der Himmel verfinsterte sich, und Gold und Edelsteine und Turniere und Waffen und Macht und Siege erschienen ihm noch bedeutungsloser als je zuvor. Und er ritt allein in den dunklen Wald, weil er die geschwätzigen Menschen um sich herum nicht mehr ertrug.

An einem dieser Abende trat nun auf einer Anhöhe eine Frau auf ihn zu, die war verschleiert und sprach: “Warte, mein Prinz, und hör mir zu. Ich bin deine gute Fee und mich dauert, wie du leidest. Und weil du immer ein großherziger Mensch warst, möchte ich dir einen Wunsch erfüllen. Nimm diesen Ring – es ist ein Zauberring. Wenn du das nächste Mal deiner Prinzessin in die Augen siehst, drehe ihn drei Mal, und sie wird in Liebe zu dir entbrennen und die deinige erwidern.”

Der Prinz nahm den Ring und wog ihn in der Hand. Er war schlicht, doch schwer und sorgsam gearbeitet. Und er betrachtete ihn lange und nachdenklich. Schließlich sagte er: “Das ist sehr großzügig, gute Fee. Doch ich wünsche mir, daß die Prinzessin mich wirklich liebt, von ganzem Herzen und aus freien Stücken, und nicht, weil sie durch Zauberkraft dazu verwunschen wird. Du weißt, wie viel sie mir bedeutet. Und ich würde mir eher das Herz aus dem Leibe reißen, als sie auf einen Weg zu zwingen, den sie nicht gehen mag. Bitte behalte deinen Ring.” Und er nahm den Ring und gab ihn der Fee zurück, ohne ihn auch nur ein einziges Mal auf seinen Finger gesteckt zu haben.

Da richtete sich die Fee auf, nahm den Schleier vom Gesicht und siehe da: Es war gar keine Fee, es war die Prinzessin, die sich verkleidet und auf den Prinzen gewartet hatte. Und sie sagte: “Mein lieber Prinz, ich habe von deiner Liebe gehört, und daß du nach einem Weg gesucht hast, mir die Aufrichtigkeit deiner Gefühle zu beweisen. Nun – dies war der größte Beweis von allen! Denn nur wer mit offenem Herzen loslassen kann, der hat das Geheimnis der Liebe wirklich verstanden.”

Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Dann sprang sie auf ihr Pferd, welches sie im Wald versteckt hatte, und ritt heim in ihr Königreich. Und der Prinz schaute hinterher, bis ihre anmutige Gestalt zwischen den Bäumen verschwunden war, und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

(usch 6/00)